chiudi questa finestra e ritorna al sito 
 

DIE WIEDERGEBURT EUROPAS AUS DEM GEIST DER HOFFNUNG
Jürgen Moltmann

 

I.

Man muss sich von außen ansehen, bevor man sich auf sich selbst be sinnt. Wer die Geschichte Europas von außen betrachtet, dem fällt im Vergleich mit Asien und Afrika sofort auf:

Europa ist ein Kontinent der Hoffnung

Seine Geschichte wurde mobilisiert von Zukunftshoffnungen und Gegen wartsenttäuschungen und ist die Geschichte der Revolutionen, der Refor­ mationen und der Renaissancen geworden.

Wenn Europa heute eine Zukunft finden will und für die Welt etwas bedeu­ ten soll, dann muss dieser Kontinent mit seiner Kultur und seiner Politik, seiner Wirtschaft und seiner Sozialordnung aus dem Geist seiner ur sprünglichen Hoffnung wiedergeboren werden und zu neuem Leben er wachen.

Wir wollen heute morgen versuchen, die Spuren dieser Hoffnung im Staub der Geschichte zu suchen und uns mit ihr nach vorn zu orientieren.
Europa wurde in seiner zweitausendjährigen Geschichte immer wieder neu erfun­ den. Darum haben die europäischen Traditionen die Eigenart, uns nicht an eine ferne Vergangenheit zu binden, damit wir auf dem Besitz der Gegen­ wart beharren. Es sind die Traditionen einer größeren Hoffnung, einer noch unerfüllten und darum unabgefundenen Hoffnung, die ihre Zeit noch vor sich hat. Jede Erinnerung führt uns in die Zukunft, die in der Vergan­ genheit verborgen liegt, und zu den Hoffnungen, mit denen unsere Vorfah­ ren gelebt und ihre Zukunft gestaltet haben. Ich nenne nur einige:

  • Welche Träume wurden in das Heilige Reich der christlichen Kaiser investiert?

  • Mit welchen Visionen befreite sich die Heilige Kirche von der Gewalt dieser Kaiser im Mittelalter?

  • Welcher Traum der Antike führte zur Renaissance in Italien?

  • Mit welchen Erwartungen traten die Völker Nordeuropas zur Refor­ mation von Kirche und Gesellschaft an?

  • Welcher Freiheitsdurst mobilisierte die Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts?

Die Revolutionen, mit denen die europäische Neuzeit begann, sind: The great Rebellion und die glorious Revolution in England, die amerikanische und die französische Revolution, das Risorgimento in Italien und zuletzt die sozialistische Weltrevolution in Rußland 1917.

In seinen demokratischen Revolutionen schuf sich das Bürgertum seine politische Welt, die zu jener industriellen Revolution passt, aus der die Moderne Welt hervorgegangen ist. In seinen sozialistischen Revolutionen suchte das Proletariat seine Gemeinschaft und Menschenwürde.

Mit jeder dieser Revolutionen wurde die Hoffnung Europas von neuem geboren. Mit jeder trat ein neuer Menschentyp auf, den es vorher nicht gegeben hatte, ein neuer Lebensstil wurde geschaffen, der die Welt ver änderte. Sehen wir uns nur den Baustil an:

In China und Japan ist es seit Jahrtausenden derselbe Stil, mit dem die harmonisch gebauten Tempel Beständigkeit und Ewigkeit versprechen - in Europa entsteht mit jeder Epoche ein neuer Stil: von der Romanik zur Gotik, von der Gotik zur Renaissance, von der Renaissance zum Barock, vom Barock zum Klassizismus, vom Jugendstil zur Moderne, von der Mo derne zur Postmoderne, um nur einige Umbrüche zu nennen. Und mit der Welt endlich, die wir „modern“ nennen, ist der Wechsel der Moden und die Erneuerung des Neuen aus der Geschichte zum Programm der Zukunft geworden. Fazit:

Europa ist ein Kulturraum der Unruhe

Europa ist ein Geschöpf revolutionärer Aufbrüche zur Zukunft

Unsere Geschichte ist eine Geschichte der rasanten Fortschritte und der einstürzenden Katastrophen. Es sind die Fortschritte und Katastrophen ei­ ner wunderbaren und zugleich schrecklichen Hoffnung. Sie ist Europas Bestimmung im Guten wie im Bösen. Wir können dieser Hoffnung nicht entgehen. Wir müssen uns ihrer Bestimmung stellen, wenn wir Europäer bleiben und werden wollen.

 

II.

Doch die Seele Europas gleicht heute einer ausgebrannten Kraterland schaft. Die Vulkane sind erloschen. Die Feuer der Begeisterung sind aus­ gebrannt. Dunkle Asche liegt auf allem Lebendigen. Skepsis und Melan­ cholie breiten sich aus und lassen Europa alt und grau aussehen. Wir ha­ ben die Orientierung verloren. Die großen Leidenschaften für eine bessere Zukunft sind gebrochen. Wir trauen uns nichts Großes mehr zu. Woran liegt das?

Es liegt an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts:

Da war zuerst 1914 - 1918 die unerwartete „europäische Urkatastrophe“ des Weltkriegs. Die fortschrittlichsten Weltmächte, die christlichen Natio­nen Europas, die riesige Kolonialreiche beherrschten, fielen in Europa ü­bereinander her und zerstörten sich gegenseitig in den blutigsten Materi­ alschlachten, die die Welt bisher gesehen hatte. In den Schlachten des 1. Weltkriegs versank die Fortschrittshoffnung des 19. Jahrhunderts im Abgrund der Vernichtung. Der bürgerliche Traum eines liberalen, weltoffe­ nen und gebildeten Europas wurde mit den Toten begraben. Was aus den Schützengräben herausstieg, war etwas ganz anderes: Es war der euro­ päische Nihilismus, der zu bisher unbekannten, menschenverachtenden Diktaturen führte.

Zwei neue Hoffnungen entstanden nach jener europäischen Urkatastro­ phe: Der sozialistische Kommunismus in Rußland und der antikommunis­ tische Faschismus/Nationalsozialismus.

Aus dem Sturz des zaristischen Regimes in Rußland erhob sich der marxistisch-leninistisch-stalinistische Sozialismus mit der alten Zukunftshoffnung der Gleichheit aller Menschen und einer klassenlosen Gesellschaft. In Petersburg wurde 1917 „die Weltrevolution“ ausgerufen und mehr als die Hälfte der Menschheit wurde von dieser Hoffnung ergriffen. Aber sie war mit der „Diktatur des Proletariats“ in Gestalt der Parteidiktatur durch­ gesetzt worden und zerstörte den Freiheitsdurst . der Völker. 1990 brach dieses Projekt einer großen Hoffnung zusammen. Glasnost und Perestroi­ka ließen das Sowjetimperium unblutig zerfallen. Gleichheit ohne Freiheit geht nicht. Europa ist heute wieder da, wo es vor dem 1. Weltkrieg schon einmal war. Der Eiserne Vorhang ist verschwunden. Die Europäische Ge­ meinschaft dehnt sich nach Osteuropa aus.

Der neue Nationalismus in Westeuropa nahm die gewalttätige Form des Faschismus in Italien und der Hitlerdiktatur in Deutschland an. Die Na­ zi-Diktatur zerstörte durch den 2. Weltkrieg und die nicht für möglich gehal­ tenen Menschheitsverbrechen das alte Europa so gründlich, dass es nach 1945 in den Trümmerlandschaften der Städte und der Völkerwanderung vertriebener Menschen nicht wieder zu erkennen war. Ausgerechnet mit den alten Hoffnungssymbolen vom „ tausendjährigen Reich“ und dem „Führer der Endzeit“ wurden Millionen ermordet und Millionen in den Tod getrieben. Hoffnung verträgt sich nicht mit Gewalt. Sie will das Leben.

Diese letzten Vulkanausbrüche des diktatorischen Sozialismus und der brutalen Nazi-Diktatur haben die Seele Europas zuletzt ausgebrannt und zum Tod erkrankt. Wir Überlebenden und Nachgeborenen sind „gebrannte Kinder", die jetzt das Feuer scheuen. Wir suchen keine Abenteuer und wollen keine weiteren Experimente. „Klar denken und nichts hoffen“, hieß eine Devise der Nachkriegsgeneration. Doch damit gingen auch die lei tenden Ideen für Europa und seine Zukunft verloren.

Heute ist Europa vereinigt, aber zunächst nur - und auch das nicht überall - durch das gemeinsame Geld. Wir sind Euro-Land geworden. Wir sind eine Wirtschaftseinheit. Wir haben in Brüssel die europäischen Kommissi­ onen und in Straßburg ein europäisches Parlament. Aber die meisten von uns leben in ihren regionalen und nationalen Grenzen. Was soll eine eu­ ropäische Kommission ohne eine europäische Kultur? Wir sollen eine mo­ ralische „Werte“-Gemeinschaft sein, aber wo sind die gemeinsamen Wer­ te? Wir haben den Entwurf einer gemeinsamen Verfassung, aber sie ist ohne Transzendenzbezug.

Sind wir ein seelenloses Europa geworden? Müssen wir „Europa eine Seele geben“? Ohne neue Orientierung entsteht ein Europa ohne Hoff­ nung und ohne Bedeutung für den Rest der Welt.

Aus Europa kamen Demokratie und Menschenrechte in die Welt, aus Eu ropa kamen Liberalismus und Sozialismus in die Welt. Aus Europa kam die wissenschaftlich-technische Zivilisation in die Welt. Aus Europa kamen die Funken der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft in die Völkerwelt. Und wie ist es heute: Kommt da nichts mehr? Fragen Menschen in China. Und Menschen in Afrika fragen, ob Kapitalismus, Coca Cola und McDo nalds alles ist, was sie aus dem Westen noch zu erwarten haben. Haben wir nicht mehr zu bieten?

 

III. Das Abendland oder Europa? 

Die erste Idee, die nach den Katastrophen der Weltkriege im 20. Jahrhundert auftauchte, war nicht „Europa“, sondern „das Abendland“. Unter diesem Dach versammelten sich Konrad Adenauer, Robert Schu­ mann und Alcide De Gasperi und legten die Grundsteine für die Versöhnung und die neue Gemeinschaft der Völker Westeuropas. „Das Abendland“ galt als „das christliche Abendland“ und wurde polemisch gegen den atheistischen Osten abgegrenzt.

„Das Abendland“ war die Friedensidee der Heiligen Allianz im 19. Jahrhundert gewesen, mit der die alten Feudalmächte die französi­ sche Revolution beenden und die Freiheiten des Bürgertums unterdrücken wollten. Natürlich gehörte zur Heiligen Allianz auch das fromme Rußland der Zaren.

„Das christliche Abendland“ wird jedoch schon seit dem 10. Jahrhundert der vom Kaiser und Rom vereinigte und beherrschte Raum genannt. Er ist im Mittelalter durch die lateinische Sprache gegen das griechisch spre­ chende „christliche Morgenland“ in Byzanz abgegrenzt worden. Die Trennung geschah 1054 mit der gegenseitigen Verurteilung der Kirchen. „Das A­ bendland“ war durch Jahrhunderte hindurch der Name für die Fortsetzung der christlichen Antike und ist aus der rechtlichen Übertragung des Heili­ gen Reiches - translatio imperii - aus der antiken Mittelmeerwelt auf Zent­ raleuropa hervorgegangen. Noch heute ist Europa geteilt in das lateini­ sche Abendland und das orthodoxe Morgenland. Die Grenze - auch Theo dosiuslinie genannt, ist auf dem Balkan nahezu undurchdringlich. Die la teinischen Völker haben im Westen eine andere Geschichte durchge macht als die orthodoxen Völker im osmanischen Reich. Bis zur „Wende“ 1990 gab es bei uns öffentliche Überlegungen, Europa nur bis an die Grenzen des lateinischen Abendlands auszudehnen, um die sprachge schichtliche und kirchengeschichtliche Einheit des Abendlandes zu be wahren. Zum Glück ist diese Spaltung des Kontinents der Hoffnung durch die beschränkte Idee des „christlichen Abendlands“ nach 1990 ver schwunden.

„Europa“ ist demgegenüber ein Humanistenwort. Der Name entsteht in der Renaissance und ist eine polemische Alternative zum „christlichen Abend land“. „Europa ist ein Konkurrenzbegriff gegen das Abendland“ (Sagte Eugen R osenstock-Huessy in Die Europäischen Revolutionen, 46). Der Renais sance-Humanismus lehnt die christliche Antike ab und sucht die Wieder geburt der heidnischen Antike. Er lehnt den christlichen Staat ab - und sucht den humanen Staat und die weltliche, nicht-religiöse Kultur. Seit 1450 etwa tritt diese humanistische Idee „Europa“ gegen das „christliche Abendland“ an und kommt im Zeitalter der Aufklärung und der Säkularisierung zum Siege. Das „Abendland“ hatte noch die unzweideutigen Grenzen der römisch-katholischen Kirche, davon ist in der Geographie „Europa“ nichts mehr enthalten. Rußland und die Türkei wurden in die modernen Europakonzepte einbezogen, denn „Europa“ ist ein Kontinent in Beziehungen zu Asien, Afrika und Amerika. „Europa“ steht für den modernen, nachchristlichen Humanismus der Menschenwürde (Pico Della Mirandola), der Menschenrechte (französische Revolution), der Toleranz, des säkula ren, religionsneutralen Staates, so wie das „Abendland“ für die christlichen Werte des Lebens der Nächstenliebe, des Mitleids und der Barmherzigkeit stand.

Das „Abendland“ war ein Kulturbegriff und „Europa“ war auch ein Kultur begriff. Beide Kulturbegriffe aber waren nicht stark genug, um die Katast rophen des 20. Jahrhunderts zu verhindern. Darum überzeugen sie heute nicht mehr. Die Wiedergeburt des „Christlichen Abendlands“ gegen den roten Osten war eine konservative Utopie. Die heutige säkulare Europa- Idee ist nichts anderes als eine romantische Beschwörung jener Werte des Humanismus, der in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verraten worden ist. „Der seelisch-kulturelle Inhalt Europas ist im Weltkrieg ver­ dampft“ (E. Rosenstolz-Hussey).

Aber die Idee „Europa“ ist aus der Idee „Abendland“ hervorgegangen, und auch in der Kritik steckt Fortsetzung. Darum blieb die Idee Europa in den Grenzen der Idee Abendland befangen. Doch wer nimmt heute noch die russische Oktoberrevolution und die sozialistische Hoffnung als eine euro päische Hoffnung wahr? Ist nicht St. Petersburg eine europäische Stadt und Istanbul eine orientalische Stadt?

Mit dem Begriff vom „christlichen Abendland“ sollte der christliche Charak ter Europas festgehalten werden. Im Jahr 1800 schrieb der deutsche Dich ter Novalis seine berühmte Schrift „Die Christenheit oder Europa“, um bei de Menschheitskreise gleich zu setzen. Auch die „Heilige Allianz“ wollte den Erdteil Europa als die Christliche Welt festhalten. Nicht anders dacht en manche Westeuropäer in der Nachkriegszeit und reduzierten das Christentum damit auf Westeuropa. Das aber geht nicht: Beide Begriffe der Christenheit und Europas sind von ganz verschiedenem Gehalt. Um es scharf auszudrücken: Europa kann christlich sein, aber das Christen tum kann nicht mehr nur europäisch sein. Es hat seine politische Rolle als römische Reichsreligion oder als europäische Zivilreligion oder als Re ligion des Westens schon lange verlassen und ist eine Weltreligion ge worden. Ein Drittel der Menschheit - 2,2 Milliarden etwa - sind Christen, und die Mehrheit der Christen lebt nicht im beschränkten europäischen Raum, sondern in Afrika, Asien und Amerika. Zwar gibt es noch die alten Zentren in Rom und in Genf, aber die Gewichte haben sich verlagert. Das Christentum ist polyzentrisch geworden. Selbst in China ist das Christen tum keine westliche Religion mehr, sondern eine eigene chinesische Möglichkeit. Ist das negativ oder positiv zu bewerten?

Als mit der Säkularisierung des Staates in Europa das Christentum seine Rolle als europäische Staatsreligion verlor, konnte es säkular, d. h. welt weit werden. Und es wurde missionarisch universal und überall akzepta bel. Die Christenheit und Europa verhalten sich asymmetrisch zueinander, sie sind nicht mehr deckungsgleich. Es ist in dieser Hinsicht nicht zu be dauern, dass es keinen Bezug auf das Christentum in der neuen europäischen Verfassung gibt. Ich bin als Christ in Europa Bürger zweier Welten: politisch bin ich deutscher Bürger der begrenzten europäischen Welt, christlich aber bin ich Glied der „ganzen Christenheit auf Erden“ und bin in den Kirchen Chinas und Koreas ebenso zuhause wie in den Kirchen Ita liens und Amerikas - und in Tübingen.

Mit dem postchristlichen, humanistischen Begriff „Europa“ ist es anders: Dieser Kulturbegriff ist nicht auf die Kirche bezogen und auch nicht auf das Christentum allein. Seine Werte der Menschenwürde und der Men schenrechte sind universal und auf das ganze Menschengeschlecht ange legt. Die Menschenrechte wurden denn auch zur Grundlage der Vereinten Nationen, der UNO, und werden einmal, wie wir hoffen, Grundlage einer humanen Weltgemeinschaft werden. Sind sie darum unchristlich? Hat die Christenheit darum keine positiven Beziehungen zu diesen humanisti schen Werten Europas?

Fragen wir uns, wozu die Kirche in dieser Welt ist, kommen wir auf die Antwort: Für das kommende Reich Gottes ist die Kirche da. Das kommen­de Reich Gottes wird nach den Traditionen christlicher Hoffnung „die neue Menschheit“ und „die neue Schöpfung“ und die Gegenwart Gottes in allen Dingen enthalten. Es ist universal. Darum werden wir die Universalität der Menschenrechte als Antizipation des universalen Reiches verstehen und die Globalisierung als einen Schritt zur Zusammenfassung der verschie denen Völker zur einen Menschheit begrüßen.

Das humanistische „Europa“ ist weder unchristlich noch postchristlich, sondern eine geschichtliche Gestalt der christlichen Zukunftshoffnung auf das Reich der Vollendung der Geschichte. Gott hat die Menschen zu sei nem Bilde geschaffen und sie überall mit gleicher Würde und Rechten ausgestattet, und er wird sie aus ihren Verwirrungen zu seinem Bilde erlö sen und endlich vollenden. Wer darauf hofft, dem kann die humanistische Kulturidee „Europa“ nicht fremd sein. Dass sie in den katholischen Län dern laizistisch gegen die kirchliche Hierarchie durchgesetzt werden muss te, ist eine historische Tatsache, ändert aber nichts an ihrer Begründung in der universalen Reichshoffnung der Christenheit. Diese Kulturidee „Euro pa“ bringt ihrerseits die Kirche zur Besinnung auf ihre weltweite Hoffnung: Es geht in der Kirche um mehr als Kirche; es geht um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!

 

IV. Das neue Europa: Hoffnung für die Welt

Seit 1990 verbreiten die Westliche Welt, die USA und die Europäische Gemeinschaft mit missionarischem Eifer die politische Vision von „Freiheit, Menschenrechte und Demokratie“. Diese Vision ist aber schon zweihundert Jahre alt und stammt aus der amerikanischen und der französischen Revolution. Sie genügt heute nicht, weil sie 1. die soziale Dimension der Gleichheit aller Menschen außer acht lässt und 2. keine Rucksicht auf die Natur der Erde nimmt, mit der die menschliche Kultur zu einem nachhaltigen und überlebensfähigen Ausgleich kommen muss.

Ich schlage darum folgende weitere und tiefere Zukunftsvision vor:

  • Ausgleich von Freiheit und Gleichheit: Solidarität

Mit der Ausbreitung der Modernen Welt über die ganze Erde hat Europa den Völkern zwei Ideologien mitgeteilt: bürgerlichen Liberalismus und pro letarischen Sozialismus. Die eine begreift die Freiheit der einzelnen Men schen, die andere die Gleichheit der Menschen miteinander. Immer geht es in den sozialen Experimenten der Modernen Welt um den Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit, den Rechten der Person und den Rech ten der Gemeinschaft. Als Europa noch in Ost und West gespalten war, stand hier die Freiheit und dort die Gleichheit im Vordergrund. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus gibt es hier wie dort nur noch den Neoliberalismus. Die neoliberale Deregulierung der Wirtschaft aber schafft so viel Ungleichheit zwischen Arbeitern und Managern, zwi schen den wenigen Reichen und den vielen Armen, dass die demokrati sche Ordnung des Gemeinwesens bedroht ist. Denn Demokratie beruht auf der Gleichheit der Bürger, der neoliberale Kapitalismus aber schafft Ungleichheit. Das kann nicht gut gehen.

Die Kämpfer der französischen Revolution wussten, wie schwer es ist, diese feindlichen Schwestern „Freiheit“ und „Gleichheit“ miteinander zu verbinden und gleichzeitig zu verwirklichen. Sie suchten das gemeinsame Band in der „Brüderlichkeit“, die „Schwesterlichkeit“ wurde von emanzipier ten Frauen später hinzugefügt. Das sind emotionale Begriffe und die las sen sich nur schwer verwirklichen. Aber wenn wir sie in „soziale Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ übersetzen, kann man sehr wohl etwas mit ihnen anfangen. Soziale Gerechtigkeit, die „jedem das Seine“ gibt und von „je dem das Seine“ fordert, ist durchaus in der Lage, Freiheit und Gleichheit in einem Gemeinwesen zusammenzufassen.

Für die freie Betätigung der Einzelnen haben wir die „freie Marktwirt schaft“. Mit Rücksicht auf die Gleichheit aller Bürger haben wir die „soziale Marktwirtschaft“, eine Marktwirtschaft in sozialer Verantwortung und nach Maßgabe sozialer Gerechtigkeit. „Es ist genug für alle da“: Das ist die Verheißung des Reiches Gottes. Was das konkret in der Situation neolibe raler Marktwirtschaft heißt, haben die päpstlichen Sozialenzykliken von „Rerum novarum“ 1891 bis „populorum progressio“ 1967 und „Sollicitudo rei socialis“ 1988 mit zunehmender Klarheit herausgearbeitet. Solidarität, Ge meinschaft und aktive Teilnahme aller am Gesellschaftsprozess sind die Kräfte, die Freiheit und Gleichheit verbinden und sowohl den Liberalismus wie den Sozialismus in ihren Einseitigkeiten hin sich lassen.

Nachdem das alte Europa in der Welt für neoliberalen Kapitalismus und nur in China noch für marxistischen Sozialismus bekannt ist, wird sich ein neues Europa zeigen, wenn uns eine freie Solidargemeinschaft gelingt. Solidarität im Inneren einer Gesellschaft und Solidarität zwischen den Ge­ sellschaften ist die einzige Überlebenschance der Menschheit. Langfristig gese­ hen, kann nur eine solidarische Menschheit überleben. Nur solidarisch können wir die gegenwärtigen Menschheitsgefahren überwinden.

Unter den heutigen Verhältnissen der Ungleichheiten und der Verelen­ dung so vieler Menschen und Völker ist Solidarität ein Abbild und eine Vorausdarstellung der Herrlichkeit jenes göttlichen Reiches, in dem Frie­ den und Gerechtigkeit sich küssen.

  • Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft: Kultur der Erde

Eine neue Revolution der Hoffnung, die von Europa ausgeht, ist zweifellos die „grüne Bewegung". Manche denken, es ginge nur um die Bewahrung der „Umwelt", um Klimaschutz und bessere Abfallwirtschaft. Sie verkennen die Umkehr des Denkens und des Lebensstils, die sich mit der Ökologieb ewegung anbahnt. Es geht um die Abkehr von der Beherrschung der Na­ tur durch Menschen und die Hinkehr zur Einwohnung der Menschen in dem Lebenssystem der Erde.

Seit dem Beginn der Modernen Welt haben die Menschen sich aus dem Leben der Natur dieser Erde gelöst und sich zu Herren der Natur aufgeschwungen. Durch Wissenschaft und Technik, so versprachen Francis Bacon in England und Rene Descartes in Frankreich, machen Menschen sich die Kräfte der Natur und neuerdings auch des eigenen Le­bens untertan. D amit aber entfremden sich die modernen Menschen von der Natur und treten ihr als Herren gegenüber. Sie degradieren die Natur zum Mate­rial ihrer Ausbeutung. Psychologen haben das mit Recht den „Gotteskom­ plex" der modernen, machtbesessenen Menschen genannt. „Wissen ist Macht", heißt es, und durch wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnt der Mensch Macht über die Natur. Er kann Atome spalten und den eigenen genetischen Code verändern. Er kann ohne Grenze immer mehr Macht gewinnen, aber was will er mit dieser Macht anfangen? Wir sind jedes Jahr besser gerüstet, zu tun, was wir wollen, aber was wollen wir eigent­ lich? Die bloße Akkumulation von Macht ist doch kein sinnvolles Ziel. Sie zerstört ohne Grund die Natur.

Die Ökologiebewegung hat ein sinnvolles Ziel. Das ist, antik und christlich gesprochen, die Ökumene: die bewohnbare Erde und eine im Erdsystem beheimatete Menschheit: „Heimat der Identität", wie Ernst Bloch sagte. Ist das Ziel des menschlichen Fortschritts nicht die Beherrschung der Erde, sondern die menschliche Einwohnung in ihr, dann müssen wir uns 1. vom modernen Gotteskomplex verabschieden und einsehen, dass wir nur Menschen sind, Geschöpfe in einer Schöpfungsgemeinschaft mit anderen Bewohnern dieser blauen Planeten Erde, und 2. der wissenschaftlichen Erforschung der Natur eine andere Zielsetzung und ein anderes Interesse widmen als das bisherige Interesse an der Beherrschung der Natur. Wa­ rum ist diese Umkehr notwendig? Weil die Natur der Erde größer ist, als es unsere Kultur je sein kann, und weil wir Menschen nicht Herren, son­ dern ein Teil der Natur sind.

Die Erde kann ohne das Menschengeschlecht leben und hat es durch Jahrmillionen getan, aber wir Menschen können nicht ohne die Erde le­ben, denn wir sind Erdgeschöpfe. Die Erde trägt uns, nicht wir die Erde. Also sind wir Menschen von den Lebensbedingungen der Erde abhängig, aber die Erde ist nicht von uns abhängig. Aus dieser simplen Einsicht folgt, dass sich die menschliche Zivilisation in das Lebenssystem der Erde integrieren muss, es kann nicht umgekehrt die Natur der Erde der menschlichen Herrschaft unterworfen werden.

Nur Fremde beuten die Natur aus, holzen die Wälder ab, überweiden die Wiesen und fischen die Seen leer und ziehen dann wie Nomaden weiter. Die Einwohner dieser Regionen aber werden die Lebensfähigkeit ihres Landes, der Seen und der Luft verteidigen. Viele Konflikte zwischen öko­ nomischen und ökologischen Interessen sind Konflikte zwischen fremden Wirtschaftsunternehmen und den Bewohnern dieser Regionen. Das bringt uns zu der selbstkritischen Frage: Sind wir Menschen Fremde oder Be­ wohner der Natur? Liegen unsere Heimat und unsere Hoffnungen auf die­ ser Erde oder woanders in irgendeinem Jenseits?

Das immer weiter entwickelte Potential von Wissenschaft und Technik muss nicht in einen destruktiven Kampf um die Macht eingesetzt werden, es kann auch zur nachhaltigen Bewohnbarkeit der Erde durch die Menschheit verwendet werden. Dann wird diese Schöpfung nicht nur be­ wahrt, sondern auch auf ihr Ziel hin weiter entwickelt. Denn dieser Planet Erde ist zum gemeinsamen Haus aller Erdgeschöpfe bestimmt und soll die Heimat für die Gemeinschaft aller Lebewesen werden.

Nach der Vision christlicher Hoffnung ist die Erde dazu bestimmt, Wohn­ raum Gottes zu werden, „wie im Himmel so auf Erden". Wenn der Ewige kommt, um auf der Erde zu „wohnen", wird diese Erde zum „Tempel' der Gottheit erneuert. Der ruhelose Gott der Geschichte wird zu seiner Ruhe kommen. Das ist die jüdische und christliche Hoffnung für diese Erde: „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verhei ßung, in welcher Gerechtigkeit wohnt", sagt der 2. Petrusbrief (3, 13).

Unter den heutigen Verhältnissen der zunehmenden Zerstörungen dieser Erde ist die neue, „grüne" Kultur der Erde ein Abbild und eine Vorweg­ nahme jener Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt und in der Gott alles in al­ lem sein wird.

 

V. Die Quelle der Hoffnunq Europas

Wenn wir nach dem Blick in die Vergangenheit und die mögliche Zukunft Europas in die Tiefe graben und nach der Quelle für die Hoffnungen, die Revolutionen und die Katastrophen Europas suchen, stoßen wir auf ein göttliches Geheimnis. Den „Gott der Hoffnung" nennt der Apostel Paulus (Röm 15, 13) diesen Beweger aller menschlichen Bewegungen in die Zu­ kunft. Das ist einzigartig. Nirgendwo sonst in der Welt der Religionen wird das Göttliche mit der menschlichen Hoffnung auf die Zukunft verbunden. Götter in ihrem seligen Götterhimmel sind bekannt. Die Transzendenz des Unveränderlichen, von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst gleich, ist bekannt. Aber ein Gott mit Zukunft als Seinsqualität (Ernst Bloch), das ist ein Gott, der vor uns ist und uns vorangeht, den gibt es nur in der Bibel der Juden und der Christen. Gott, der nicht nur ist und nicht nur war, sondern der auch „kommt", der ist neu.

Das ist der Gott Israels, der sein Volk aus der Gefangenschaft ins gelobte Land der Freiheit führt und ihm, wie die Geschichte vom Exodus erzählt, in der Wolkensäule bei Tage und der Feuersäule bei Nacht voranzieht.

Das ist der Gott der Auferstehung Christi von den Toten, der im Feuer und Sturmwind des Heiligen Geistes, wie das Evangelium verkündigt, die Sei­ nen in das ewige Leben seiner zukünftigen Welt führt.

Dieser Gott erwartet uns und kommt uns aus seiner Zukunft entgegen. „Siehe, ich mache alles neu", lautet die große Einladung zu seiner Zukunft (Ofb 21, 5).

Zukunft ist nicht etwas Nebensächliches im Geist Europas, sonder das E­lement seines Glaubens, der Ton seiner Lieder, die Farbe der Morgenröte auf seinen Bildern. „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe" (Röm 13, 12): Das ist das Zeitgefühl, das mit der Bibel in die Welt gekommen ist. Glauben nennt das Neue Testament „eine gewisse Zuversicht dessen, das man hofft" (Hebr 11, 1).

Der europäische Geist hat sich in Zustimmung und Widerspruch, im Glau­ ben und Unglauben, in Hochmut und Verzweiflung an diesem göttlichen Geheimnis der Hoffnung ausgebildet. Hoffnung ist das Glück und die Qual und im Guten wie im Bösen das Schicksal dieses Kontinents. Aus dem Geist dieser Hoffnung wird Europa von neuem geboren werden und seine Gestalt in der Welt finden.

 
chiudi questa finestra e ritorna al sito